Jung und extrem

 

Der aktuelle Verfassungsschutzbericht 2017 hat gerade erst festgestellt, dass der gewaltorientierte Extremismus in Deutschland zunimmt. Insbesondere junge Menschen sind anfällig für extremistische Überzeugungen.

 

Prävention Jugendextremismus: Soziales Umfeld im Fokus

„Kein Jugendlicher wird als Extremist geboren“, weiß der Extremismusexperte Dr. Rudolf van Hüllen, der auf einer gemeinsamen Tagung von Polizeidirektion und Universität Osnabrück (Symposium „Jugendextremismen und soziale Räume“ 2017) zugleich beklagte, dass die Menschen, die sich in einem Radikalisierungsprozess befänden, immer jünger würden. Als Grund nannte er extreme Gruppierungen, denen es immer öfter gelinge, über das Internet junge Menschen in ihrer Entwicklungsphase zu beeinflussen und für sich zu gewinnen. Wie können Jugendliche besser vor radikalen und extremistischen Tendenzen geschützt werden? Es gelte Werte zu festigen, damit junge Menschen nicht vom Weg abkommen. Neben virtueller Propaganda spielten nämlich auch Werte und Normen im sozialen Umfeld der Kinder und Jugendlichen eine entscheidende Rolle, so Bernhard Witthaut, Präsident der Polizeidirektion Osnabrück. Jugendextremismus in sozialen Räumen identifizieren, verstehen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen, das sind nach Meinung von Prof. Dr. Martina Blasberg-Kuhnke (Universität Osnabrück) wesentliche Elemente, um gefährdete Jugendliche zu schützen. Präventionsnetzwerke sowie vorbeugende Maßnahmen, die differenzierter und abgestimmter auf die unterschiedlichen Zielgruppen erfolgen, seien erforderlich. Dass das Umfeld junger Menschen eine entscheidende Rolle für die Entwicklung extremistischer Überzeugungen spielt, stellt auch der Psychiater Dr. Mazda Adli klar: „Es gibt kein psychopathologisches Musterprofil eines Extremisten. Vielmehr verbergen sich dahinter vielschichtige individuelle und soziale Prozesse. Oft fühlen sich radikale Menschen ausgeschlossen. Sie sind verbittert und neigen zur Polarisierung. [] Einen ganz entscheidenden Einfluss darauf, ob sie extrem werden, hat das psychologische Klima, in dem sie leben.“

 

Das unter dem Begriff Extremismus zusammengefasste Phänomen hat tatsächlich viele ganz unterschiedliche Facetten und Ursachen: Extremismus kann etwa ein Ventil für emotionale Probleme sein. Danach führen dauerhafte Erfahrungen der Unterdrückung, Unsicherheit, Demütigung, von Ärger, Verlust und Wut bei Individuen und Gruppen zu Konflikten. Diese Konflikte werden dann mittels Strategien gelöst, die den Betroffenen bekannt sind und die im Einklang mit diesen Erfahrungen stehen. Daher werden Extremisten gewalttätige und destruktive Lösungswege suchen, nicht weil sie maßgeblich zur Erreichung der Ziele beitragen können, sondern weil sie sie aufgrund ihres persönlichen Erfahrungsschatzes als angemessene Reaktion betrachten und sie ihre Rachegefühle befriedigen können. Sie fühlen sich durch die extremistischen Handlungen bzw. Straftaten nicht länger hilflos. So verwundert es kaum, dass die hinter einer extremistischen Szene stehende Ideologie für die meisten Mitglieder eher nebensächlich ist, während soziale Aspekte wie Zusammenhalt, Anerkennung und Bestätigung sowie soziale Teilhabe im Vordergrund stehen. Daneben geht es aber auch um Macht. Extremistische Aktionen können dann eine effektive Strategie für die Erlangung und Aufrechterhaltung von Macht in einer hierarchischen Umgebung sein, in der Mittel knapp sind und Wettbewerb die Machtposition bestimmt. Extremismus hat hier also eine bestimmte Funktion, indem er radikale Kräfte gegen einen gemeinsamen Feind vereint und der „Konkurrenz“ schaden kann. Extremistische Gewalttaten werden auch im Rahmen bestimmter Mythen und Ideologien begangen und sind dann Folge apokalyptischer „End-of-Life“-Ideologien. Einige dieser Ideologien konzentrieren sich auf den Untergang der „herrschenden Kräfte des Bösen“, verherrlichen die eigene Rechtschaffenheit und streben die Zerstörung anders denkender weltlicher Orientierungen an. Solche Überzeugungssysteme erwarten eine göttliche Sanktionierung des „Bösen“ und betrachten das Martyrium als einen Akt der Selbstreinigung und der Gerechtigkeit. Sie betonen zugleich die Vorteile von Märtyrern im Jenseits. So sei der Wert des diesseitigen Daseins etwa bei Teilnehmern der salafistischen Ideologie nichtig, so der Islamwissenschaftler Dr. Michael Kiefer von der Universität Osnabrück; „Es gibt eine starke Jenseitsorientierung und eine stetige Androhung der Hölle. Sie sehen sich als Teil einer höheren Sache. Auf der Grundlage dieser Selbsterhöhung entsteht eine Selbstermächtigung, was zur radikalen Ablehnung der bestehenden Ordnung führt. Es kommt im Extremfall zur Auslebung von Macht- und Gewaltphantasien.“

 

Hintergrund: Gewaltorientierter Extremismus nimmt zu

Der aktuelle Verfassungsschutzbericht 2017 zeigt, dass die Zahlen der gewaltorientierten Extremisten sowohl bei Islamisten als auch bei Rechts- und Linksextremisten deutlich angestiegen ist. Danach sind mehr als die Hälfte aller Rechtsextremisten zum gewaltorientierten Spektrum zu zählen. Im Jahr 2017 waren dies mit 12.700 Personen so viele wie nie zuvor (2016: 12.100; 2015: 11.800). Rund ein Drittel aller Linksextremisten gelten als gewaltbereit und auch innerhalb der islamistischen Szene zeichnete sich 2017, wie auch schon im Jahr 2016, eine Kräfteverschiebung in den gewaltorientierten Bereich ab.

 

Zu unterscheiden ist die Zahl gewaltbereiter Personen von tatsächlich begangenen Gewalttaten aus der extremistischen Szene. So ist im Jahr 2017 die Zahl linksextremistischer Gewalttaten um 37 Prozent auf 1.646 angestiegen (2016: 1.201). Dieser Anstieg wird vor allem auf die Ausschreitungen auf dem G20-Gipfel vom 7. bis 8. Juli 2017 in Hamburg zurückgeführt, bei dem bereits 832 Gewalttaten gegen die Polizei und Sicherheitsbehörden begangen wurden. Die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten ist im Jahr 2017 auf 1.054 gesunken (2016: 1.600). Dies habe wesentlich mit dem Rückgang des Flüchtlingszuzugs zu tun und könne kein Grund zur Entwarnung sein, so Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. Innerhalb der islamistischen Szene bereiten den Sicherheitsbehörden insbesondere sogenannte Rückkehrer aus den Kampfgebieten in Syrien und im Irak Sorgen. Zudem seien die Mitglieder der islamistischen Szene immer häufiger der gewaltbereiten Salafistenszene zuzuordnen.

 

Beratungsstelle Radikalisierung: Wenn Eltern, Lehrer oder Freunde sich sorgen, dass sich jemand im Umfeld einer radikalen Gruppe zuwendet, ist die „Beratungsstelle Radikalisierung“ eine hilfreiche Anlaufstelle. Die Mitarbeiter beantworten Fragen und klären Betroffene auf. Zudem vermitteln sie Hilfsangebote in der Nähe der Anrufenden und im Einzelfall persönliche Beratung und Betreuung durch eine geeignete Stelle. Sie stellen den direkten Kontakt zu Spezialisten in allen Bereichen her und vermitteln den Kontakt zu anderen Betroffenen in ähnlicher Situation und/oder Selbsthilfe-Initiativen. (Beratungsstelle Radikalisierung: Montag bis Freitag 9 bis 15 Uhr, Telefon: +49 911 943 43 43) Darüber hinaus informiert die Broschüre "Glaube oder Extremismus?" über die Arbeit der Beratungsstelle und ihrer Kooperationspartner und steht in den Sprachen Deutsch, Englisch, Türkisch, Arabisch und Russisch  auf der Internetseite des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als Download zur Verfügung.